"Ärztliche Kunst" oder Evidenz-basierte Entscheidungen
Das folgende Beispiel aus einer frühen empirischen Untersuchung steht für die Anfänge des Bedürfnisses, Entscheidungen nicht lediglich auf Erfahrungen sondern auf gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu begründen. Bereits 1945 hat der Mediziner Harry Bakwin1 die Entscheidungskriterien für medizinische Interventionen von Ärzten problematisiert. Am Beispiel der Beliebigkeit der Tonsillektomie (Entfernung der Gaumenmandeln siehe Bild unten auf der Seite) hat er durch eine empirische Untersuchung folgendes entdeckt.
In der Untersuchung aus dem Jahre 1935 wurde eine repräsentative Gruppe von 1000 Schulkindern aus New York City von der "American Child Health Association" beobachtet. In der Untersuchung wurden die Kinder, denen noch keine Gaumenmandeln entfernt wurden, bis zu drei Mal zu verschiedenen praktischen Ärzten / Schulärzten geschickt. Die Ärzte sollten ohne das Wissen über die vorangegangenen Untersuchungsergebnisse abklären, ob eine Entfernung der Gaumenmandeln indiziert ist oder nicht.
Anhand dieser Untersuchung machte Baldwin folgende Entdeckung, die Sie auf dieser Seite durch eigene Schätzungen nachvollziehen können.
Geben Sie dazu jeweils in absoluten Zahlen Antworten auf folgende Fragen:
Ihr geschätztes Ergebnis war: |
Das Ergebnis in der Untersuchung war: |
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Bei wie vielen von den 1000 Kindern aus New York wurden bereits vor dem 11. Lebensjahr die Gaumenmandeln entfernt? |
611 (61%) | |
Wie viele Kinder aus den nichtoperierten 389 wurden nach einer Untersuchung für eine Operation vorgeschlagen? |
174 (45%) | |
Wie viele Kinder aus den verbliebenen 215 wurden nach einer erneuten Untersuchung für eine Operation vorgeschlagen? |
99 (46%) | |
Wie viele Kinder aus den verbliebenen 116 wurden nach einer dritten Untersuchung für eine Operation vorgeschlagen? |
51 (44%) |
Lediglich 65 von ursprünglich 1000 Kinder blieben, bei denen keine Tonsillektomie vorgeschlagen wurde.
Danach wurde die Studie abgebrochen
Aufgrund der Entscheidung von Ärzten würden nach vier Untersuchungen lediglich 6,5% der Kinder gesund sein und ihre Gaumenmandeln behalten dürfen, während 93,5% der Kinder operiert werden sollten.
Bei jedem Untersuchungsintervall wurde etwa bei der Hälfte der Kinder eine Tonsillektomie empfohlen.
- Erscheint ihnen die hohe Rate an Tonsillektomien begründet?
- Auf welcher Basis sollten Therapieentscheidungen getroffen werden?
- Welche Studientypen sind geeignet, Therapieentscheidungen oder Interventionen auf ihren Nutzen zu untersuchen?
1 Bakwin H. Pseudodoxia pediatrica. NEJM 1945; 232: 691-697